Freitag, 23. Februar 2022. Vor genau einem Jahr hat der unfassbare Angriff Russlands auf die Ukraine begonnen; der Krieg dauert bis heute an. Vor einem Jahr und einem Tag war Iryna Motsyk nach Deutschland geflogen für einen Einsatz in der 3. Bundesliga für den TuS Fürstenfeldbruck. Bis zu diesem Tag schien ihre Welt in Ordnung.
Drei Jahren zuvor hatte sich die 32-jährige Ukrainerin hatte sich den Bayerinnen angeschlossen, sich zuvor unter anderem in Weinheim neben Spielstärke durch ihr attraktives Offensivspiel und hohe Zuverlässigkeit ausgezeichnet. Ein Jahr nach ihr wechselte Irynas acht Jahre jüngere Landsfrau Olena Nalisnikovska von Schott Jena in den Süden. Perfekt war das ukrainische Duo an den Positionen eins und zwei, das zudem ein starkes Doppel bildet. Die beiden kannten sich unter anderem von den kommerziellen Turnierserien in der Ukraine und verstanden sich schon früher sehr gut. In der aktuellen Saison (FFB spielt mittlerweile in der 2. Liga) sind sie zwei von insgesamt 43 Ukrainerinnen und Ukrainer, die in den Spielklassen von der 1. Bundesliga bis zur Oberliga aktiv sind.
Eltern in der Ukraine, Schwester in Lettland
Der 23. Februar 2022 änderte für sie alles. „Als ich in Deutschland die Morgennachrichten über die Ukraine las, habe ich sofort versucht, meine Eltern und Verwandten anzurufen um zu erfahren, wie es ihnen geht“, erzählt Iryna. Ihre Familie lebt in Lwiw, Lemberg, einer Stadt im Westen der Ukraine, rund 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Die Kämpfe haben lange vor allem im Osten des Landes stattgefunden. Raketeneinschläge sind in Lwiw seltener als etwa in der Hauptstadt Kiew. Aber auch in Lwiw gibt es immer wieder Luftalarm und wie im Rest des Landes wiederkehrenden Stromausfälle. Ohne eigenen Stromgenerator und ausreichend Treibstoff wird es schwer. Ernsthaft erwogen, das Land zu verlassen, haben Irynas Eltern, die eine Tierarztpraxis betreiben, trotzdem nicht. „Aber meine Schwester ist mit ihrem Kind nach Lettland gegangen. Da weiß ich, dass sie zu 100 Prozent sicher sind“, sagt Iryna erleichtert.
Wohnung in Kiew aufgegeben, zurück zu den Eltern
Olena hat längst die gemeinsame Wohnung mit ihrem Freund in Kiew aufgegeben und ist zu ihren Eltern ins zentralukrainische Chmelnyzkyj gezogen. „Da ist es ein bisschen besser, auch wenn ständig Raketen drüber fliegen. Der Krieg und die Raketen sind inzwischen zur Normalität geworden“, findet die 24-Jährige.
Iryna ergänzt: „Die Luftabwehr fängt die meisten Raketen ab, aber einige landen dann eben noch ein paar Kilometer von uns entfernt. Am Anfang sind wir bei jedem Luftalarm in einen Bunker geflohen. Das machen wir längst nicht mehr.“ Sie erklärt: „Du hoffst halt, dass es dich nicht trifft.“ Dauerhafte Lebensgefahr stumpft ab.
Große Unterstützung in Deutschland
Ihre Aufenthaltsgenehmigungen hat das zuständige Landratsamt anstandslos um ein weiteres Jahr verlängert. Asyl haben die beiden nicht beantragt. Sie haben vor, nach dem Krieg zurückzukehren. Außerdem dürfen anerkannte Flüchtlinge sonst nur maximal 21 Tage dem gemeldeten Ort in Deutschland fernbleiben. Das ist für keine der beiden eine Option. Sie fahren regelmäßig, meist alle drei Wochen zurück in die Ukraine, um für rund zwei Wochen ihre Familien und Freunde zu sehen. 25 bis 27 Stunden dauern die strapaziösen Busreisen über Tschechien oder Polen.
„Trotz aller Gefahren in der Ukraine versuchen meine Familie und ich ein möglichst normales Leben zu führen“, beschreibt Olena. In Chmelnyzkyj, einer Industriestadt mit früher mal rund 270.000 Einwohnern, sei es sicherer als in Kiew, aber auch hier gebe es Luftangriffe. Sie hat vor dem Krieg ihren Lebensunterhalt als Tischtennisprofi verdient, teils durch die kommerziellen Turniere, teils als Vereinstrainerin für Nachwuchsspieler und Erwachsene. „Tischtennis war schon immer ein zentraler Teil meines Lebens und ist es immer noch. Ich will immer spielen und mich weiterentwickeln. Der Sport hat mir so viel gegeben, ich lerne durch ihn so viele Menschen kennen, habe viele Möglichkeiten, und es ist einfach ein großartiges Spiel, das niemals langweilig wird.“
Im FFB-Fitnessstudio kostenlos trainieren
In Chmelnyzkyj allerdings gibt es keine spielstarken Trainingspartner. Daher nutzt sie wie Iryna die Zeit in Deutschland zu intensivem Training. Meist stehen für die beiden täglich zwei Einheiten im benachbarten Tischtennis-Zentrum in Bad Aibling mit einer starken Trainingsgruppe auf dem Programm. Ein Brucker Fitnessstudio unterstützt zudem durch eine besondere Aktion: Alle Ukrainer dürfen dort kostenlos trainieren. Überhaupt waren Hilfe und Anteilnahme in Deutschland von Beginn an sehr groß: vom Verein TuS Fürstenfeldbruck bis zum Bürgermeister der Kreisstadt, die Teil der Metropolregion München ist. Auf einen Artikel hin meldete sich sogar aus eigenem Antrieb ein Sponsor, der den Klub und die Spielerinnen seitdem unterstützt.
„Sie gehören inzwischen zur Familie“
Dreh- und Angelpunkt des Engagements aber ist Sandra Peter mit ihrer Familie, Partner Ingo Hodum und der gemeinsamen Tochter Nika. Die frühere Leistungssportlerin ist seit langem ehrenamtliche Verbandsfachwartin des BTTV und als Trainerin und Betreuerin in der FFB-Mannschaften in der 2. und 3. Bundesliga aktiv. Sie putzte die Klinken, bat um Unterstützung und hilft bis heute ganz unmittelbar: Seit einem Jahr nämlich wohnen Olena und Iryna bei Familie Peter/Hodum in Glonn, südöstlich von München. Sie teilen sich zu zweit das Gästezimmer, haben ihr eigenes Bad und nutzen sonst alles mit. Abends spielen sie zu fünft gerne gemeinsam Uno oder Activity auf etwas Deutsch, etwas Englisch und vor allem mit Hilfe eines fähigen Übersetzungsprogramms. „Sie gehören inzwischen zur Familie“, sagt Sandra Peter. „Sie holen Nika sogar ab und zu vom Hort nach der Schule ab.“
Für die Fahrt zum Training dürfen sie Peters Auto nutzen. Die teamleitende SAP-Entwicklerin bei den Stadtwerken München kann oft von zu Hause aus arbeiten. So sind Olena und Iryna mobil und relativ unabhängig bei der Planung ihres Tagesablaufs.
„So lange es eben nötig ist, helfen wir"
Sandra Peter und ihre Familie sind ein echter Glücksfall, sportlich mit ihrem riesigen Engagement für den Tischtennissport, genauso wie menschlich. Sie machen Olena und Iryna keinen Druck und sind einfach ihre Zweitfamilie. „So lange es eben nötig ist, helfen wir, wo es nur geht“, so Peter. Auch das sportliche Engagement in Fürstenfeldbruck wird weitergehen. „Wir planen erst einmal, mit derselben Mannschaft auch in der kommenden Saison weiterzuspielen.“
Die Hoffnung auf das Ende des Krieges bleibt. Bis dahin läuft das deutsch-ukrainische „Doppelleben“ der beiden Ukrainerinnen Iryna Motsyk und Olena Nalisnikovska weiter wie bisher. Olena beschreibt es pragmatisch: „Das Leben steht eben nicht still, auch wenn Krieg ist.“